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Anna Karenina

Zu Beginn der 1980er Jahre wurde Dr. Adan Abokor in Somalia zum Tode Dr. Adan Abokorverurteilt.
Seine Aktivität als Direktor eines selbstorganisierten Krankenhauses, als einer von 28 Mitgliedern des «Hargeisa Group Hospitals», hielt das Regime um Siad Barre für gefährlich, und klagte ihn und seine Mitarbeiter des Versuchs an, die Regierung zu stürzen. Nach der Verkündung der Urteile brachen Studentenunruhen und -proteste in Hargeisa aus. Um ein Ausweiten der Proteste, die dem Regime gefährlich hätte werden können, zu verhindern, wurden die Urteile abgeändert: Todesurteile wurden lebenslange Haftstrafen, einige Verurteilte wurden zufällig freigesprochen. Andere Haftstrafen wurden, um den Gerichtsverfahren den Anschein von Anständigkeit zu geben, auf unter zehn Jahre gesetzt. Gemeinsam mit fünf weiteren Verurteilten würde Dr. Adan Abokor über sieben Jahre in Einzelhaft in Labatan Jirow verbringen.

Einer seiner Freunde, der vergaß, einen belastenden Brief aus seinem Besitz zu entfernen, wurde im Gefängnis Opfer von Folter. Die Häftlinge, jeder allein in einer anderen Zelle, der einzige menschliche Kontakt die Wärter, die jeden Abend die Zellen auf Abschriften und Notizen kontrollierten, entwickelten einen Weg der Kommunikation.
Als ein Wärter auf seine Zelle wenige Meter passiert hatte, gab es ein Klopfen an Abokors Wand. Pock. Pock-pock.
Gleichzeitig eine Stimme aus der Nebenzelle: «Das ist ein Alphabet. Schreib es dir auf, und präg es dir ein». Buchstabe für Buchstabe wurde durchgegeben; Abokor notierte sich die Bedeutungen an einer Wand und löschte die Notizen, bevor es Abend wurde. Die Verurteilten hatten eine Möglichkeit gefunden, sich Botschaften mitzuteilen.

Die geistige Gesundheit seines Freundes litt unter stark – weniger unter der Folter als unter der Isolation der Einzelhaft. Angstattacken liessen ihn in der kleinen Zelle in Unruhe ausbrechen, wenig schlafen. Er zweifelte an seiner Gesundheit, dachte, sein Herz würde aufgeben. Mittels des Klopf-Alphabets versuchte Dr. Abokor ihn zu beruhigen; körperlich ginge es ihm gut, die Zustände würden nur seinem Geist zusetzen.
Eine Ausnahme, die ein Wärter Abokor gestattete, erlaubte ihm, seinem Freund zu helfen. Allen Gefangenen war gestattet, ein einziges Buch auf ihren Zellen zu lesen: den Koran. Abokor, wohl weil wegen seiner Ausbildung zum Doktor, durfte sich stattdessen ein Buch aus seinem Besitz aussuchen. Er wählte Anna Karenina von Tolstoi, das dickste Buch, das er sich gekauft hatte.

A—l—l—e—g—l—ü—c—k—l—i—c—h—e—n—F—a—m—i—l—i—e—n…

Er begann, das Werk Tolstois durch die Wand zu klopfen, Buchstabe für Buchstabe. Die Geschichte half seinem Freund, sich von seinen Gedanken abzulenken. Er erzählt, dass es nicht nötig gewesen sei, jedes Wort voll auszuschreiben. Man würde aus dem Kontext oft nach wenigen Buchstaben verstehen, welches Wort gemeint ist. So konnte das Buch zügig übermittelt werden. bis zu 20 Seiten am Tag.

Für das gesamte Werk klopfte Abokor zwei Monate lang mit den Fingern an die Wand. Seinem Freund ging es im Laufe des Buchs besser. Anna Karenina sei eine wunderbare Geschichte, auf die man sich voll konzentrieren kann. Abends, wenn nach Stromschluss kein Lesen mehr möglich war, unterhielten sie sich über allgemeine Themen des Lebens.

1989, mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem Ende der Unterstützung Barres durch die USA, wurde Abokor in die Freiheit entlassen, nach 2375 Tagen in Einzelhaft. Anna Karenina habe er unzählige Male gelesen in den über sieben Jahren. Heute, der Erinnerungen wegen, würde er das Buch nicht mehr anrühren.

Interview mit Dr. Adan Abokor im Warscapes Podcast (Soundcloud)
Interview mit Dr. Adan Abokor (BBC iPlayer)
Buch «The Mourning Tree» von Mohamed Barud Ali, für den Dr. Abokor «Anna Karenina» klopfte (Somaliland.org)

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